Unsichtbarer Beistand - Deutsche Oper Berlin
Unsichtbarer Beistand
Mit „Das Geheimnis der blauen Hirsche“ inszeniert Annechien Koerselman Musiktheater an der Grenze zwischen alter und neuer Musik, Fantasie und Wirklichkeit
Dieser Beitrag von Nana Gerritzen entstand für die Beilage der Deutschen Oper Berlin bei der Berliner Morgenpost, November 2016.
Lena sitzt am Küchentisch, es ist ein ganz normaler Tag. Doch plötzlich passiert etwas Außergewöhnliches: 13 blaue Minihirsche lösen sich von der Vase auf dem Tisch und erklären Lena zu ihrer Meisterin, bevor sie in ihrem Kinderzimmer verschwinden.
„Das Stück handelt von einem Mädchen, das Angst vor seinem Bruder hat und deswegen erstarrt ist“, erzählt Regisseurin Annechien Koerselman in einer Probenpause. Egal ob echt oder der Fantasie entsprungen: Die Hirsche geben Lena Selbstvertrauen und Stärke. „Das ist das Schöne daran, Fantasie zu haben“, sagt Koerselman. „Selbst wenn man traurig oder böse ist, gibt es eine andere Welt, in die man fliehen kann.“
Nach Edward van de Vendels Kinderbuch „Lena und das Geheimnis der blauen Hirsche“, hat Koerselman gemeinsam mit der Dramaturgin Dorothea Hartmann eine Welt aus dicken blauen Kissen, klassischer und neuer Musik, Objekten und Geweihen geschaffen, in der die Zuschauer Lena dabei zusehen (und zuhören!) können, wie sie versucht, gleichzeitig ihr Geheimnis zu hüten und ihre Hirsche immer wieder zu sehen. In der Produktion, die ab November in der Tischlerei gezeigt wird, geht es um die Kraft der Fantasie. Die schüchterne Lena und ihr aufbrausender Bruder Raff begegnen sich in ihren Traumwelten und lernen, sich besser zu verstehen – auch in der Realität.
Seit diesem Nachmittag hat Lena ein Geheimnis, es ist, als schiene eine kleine Sonne in ihr. Doch die verdunkelt sich immer, wenn ihr Bruder Raff vor ihr steht. Raff, der seine Wut manchmal nicht beherrschen kann – und der ebenfalls ein Geheimnis hat ...
Objekttheaterspieler Mathias Becker und die Opernsängerin Meechot Marrero, die gemeinsam sowohl Lena als auch die Hirsche verkörpern, spielen mit filigranen blauen Geweihen und kichern verlegen, wenn sich die Hirschgeweihe küssen. Fast ist es, als würde man beobachten, wie zwei Kinder miteinander spielen. „Die Art und Weise, wie die Darsteller mit den Objekten spielen, ist genauso, wie man zu Hause spielt, wie ich selbst früher mit Puppen und anderen Dingen gespielt habe“, sagt Koerselman. Ein Kissen wird zur Katze, mit blauen Hörnern werden die Hirsche dargestellt. „Es geht darum, zu zeigen, dass auch in kleinen Dingen Fantasie steckt.“
Die versteckt sich in diesem Stück selbst in den Instrumenten: Komponist Sebastian Hanusa schließt Trichter mit Hilfe unterschiedlich langer Plastikschläuche an ein Baritonhorn an, um das Röhren der Hirsche nachzuahmen. „So zeigen wir den Kindern, dass man mit Instrumenten auch andere Sachen machen kann, als im herkömmlichen Sinn darauf zu spielen“, erklärt die Regisseurin. „Man kann experimentieren und schauen, was für Geräusche man so erzeugen kann.“
Die blauen Hirsche geben Lena von nun an Stärke und Selbstvertrauen. In einem von Raffs Wutausbrüchen zeigt sich sein eigenes, verloren geglaubtes Fantasietier wieder: Ein schwarzer Löwe.
Neben Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen in „Das Geheimis der blauen Hirsche“ auch Händels Barock-Arien mit neuen Kompositionen von Sebastian Hanusa. „Die Kinder lernen klassische Musik kennen, ohne dass sie denken: Das ist klassische Musik“, sagt Koerselman. Dass Grundschüler im Jahr 2016 sich bei Sopran-Arien aus dem 18. Jahrhundert langweilen könnten, befürchtet die Regisseurin nicht. „Die hören sich nicht Händel an, sondern sehen eine Sängerin, die einen Hirsch spielt und dazu singt. Es passiert so viel auf einmal, dass man sich nicht langweilen kann. Ich versuche immer, in Bildern und Szenen zu denken.“
Raffs wütender Löwe greift Lenas Hirsche an. Doch es gelingt Raff, das Raubtier zu beruhigen und in ein zahmes Kätzchen zu verwandeln. Lenas Hirsche sind gerettet.
Wie schon in früheren Inszenierungen will Koerselman auch ihr erwachsenes Publikum unterhalten. „Fantasie hat nichts mit dem Alter zu tun“, sagt sie. „Auch Erwachsene schauen sich Filme an oder lesen Bücher, weil sie versuchen, in eine andere Welt abzutauchen und daraus Kraft zu schöpfen.“