„Wir machen alles mit der Zungenspitze“ - Deutsche Oper Berlin
Von Kai Luehrs-Kaiser
„Wir machen alles mit der Zungenspitze“
Tschaikowskijs „Eugen Onegin“ feiert am 7. Mai 2015 Wiederaufnahme: Ein Gespräch mit Etienne Dupuis und Karan Armstrong über die Ära von Götz Friedrich
Berliner Morgenpost: Frau Armstrong, in Götz Friedrichs Inszenierung von „Eugen Onegin“ sang vor einigen Jahren noch einmal die damals über 60-jährige Mirella Freni die Tatjana. Woraus sich ganz organisch die Frage ergibt: Warum singen Sie heute nicht diese Rolle?
Karan Armstrong: (Lacht laut auf.) Oh, vielen Dank! Die Frage ist bloß, wer singt dann Larina?! Ich habe Tatjana übrigens wirklich einmal gesungen, in Amerika in einer Hochschulproduktion. Ich glaube, ich bräuchte eine Woche, um das zu reaktivieren.
Als Larina verkörpern Sie so etwas wie einen guten Geist aus vergangener Zeit. Haben Sie eben deshalb die Rolle angenommen?
Armstrong: Ja, und weil ich die Produktion so sehr liebe. In der Premierenbesetzung war ich nicht dabei. Aber ich stehe wohl so sehr für die Zeit, als Götz Friedrich noch Intendant war, dass mich alle immer wie eine Sachverständige behandeln und nach damals fragen.
Etienne Dupuis: Was fragt man dich denn?
Armstrong: Vor allem fragt man mich nach dem Weg! (Lacht.) Und natürlich, ob ich mit Götz Friedrich die Rollen noch sozusagen auf der Bettkante ausdiskutiert habe. Was gar nicht unmöglich gewesen wäre. Wir haben aber in Wirklichkeit gar nicht so viel gemeinsam gearbeitet. Und zwar deswegen, weil ich immer nur das gesungen habe, was die anderen übrig gelassen haben. Götz kannte sich bei Sängern sehr gut aus und hatte immer schon alle anderen gefragt.
Herr Dupuis, als „Eugen Onegin“ 1996 Premiere hatte, gingen Sie noch zur Schule. Woran merkt man, dass die Inszenierung aus einer anderen Ära stammt?
Dupuis: Sie stammt in meinen Augen nicht nur aus einer anderen Ära, sondern aus einer ganz anderen Tradition. Als Kanadier bin ich immer wieder verblüfft, dass man in europäischen Inszenierungen die Sache grundsätzlich weiter treibt als in Amerika. Bei uns ist der Dirigent der entscheidende Mann. Nicht der Regisseur. Hier ist es umgekehrt. Anders gesagt: In Europa kann es immer als eine gute Devise gelten, eine sinistre, beunruhigende Atmosphäre herzustellen. Das sorgt für Tiefe. Ansonsten erkenne ich das Alter hiesiger Inszenierungen am ehesten daran, dass so viele Farbschichten auf die Dekorationen aufgetragen sind. Natürlich nur, wenn man ganz nahe herangeht.
Eugen Onegin gilt als romantischer Charakter. Warum klappt es dann nicht zwischen ihm und Tatjana?
Armstrong: Es klappt nicht, weil Onegin am Anfang eben kein Romantiker ist. Tatjana, eine Träumerin, ist diejenige, die man als Romantikerin bezeichnen könnte. Sie ist auch die stärkste Person der Oper. Das macht die Rolle und das Werk als solches so ungewöhnlich. Onegin wird zum Romantiker erst nach dem Duell mit Lenskij.
Dupuis: Merkwürdig, aber wahr: Das Töten des anderen wird für ihn zur Offenbarung.
Armstrong: Ja, weil es sein Selbstmitleid beendet und er erst dabei merkt, dass Lenskij in Wirklichkeit sein bester Freund war.
Dupuis: Na, da habe ich jetzt übrigens tatsächlich etwas gelernt! Ich bräuchte häufiger jemanden wie dich.
Armstrong: Gerne wieder! (Lacht.)
Was ist russisch am Tschaikowskij-Gesang?
Dupuis: Die Worte.
Armstrong: Für mich besonders die Dunkelheit der Vokale. Das ist viel Arbeit für uns Amerikaner. Wir machen das meiste mit der Zungenspitze.
Frau Armstrong, warum haben Sie an der Deutschen Oper Berlin früher nie Tschaikowskij gesungen?
Armstrong: Nicht nur Tschaikowskij habe ich nicht gesungen. Auch italienische Partien kaum. Es lag eben daran, dass ich die Ehefrau war. Sogar als Plácido Domingo für die „Fanciulla del West“ kam, wollte ich lieber nicht. Ich kannte das Problem aus Hamburg, wo Anja Silja die Ehefrau von Christoph von Dohnányi gewesen war. Wenn ich dann trotzdem einmal mit meinem Mann arbeitete, gab das die richtige Gelegenheit für all die wundervollen Fights, die wir hatten. Ich war ursprünglich wohl eine Ausnahme, weil ich ihm ständig widersprach und immer Gründe für das verlangte, was er wollte. Er musste sich erst daran gewöhnen.
Dupuis: Waren Argumente damals nicht üblich?
Armstrong: Nicht so wie heute. Götz Friedrich wollte, dass man sich direkt vor ihm aufbaute und sang, während er dabei Zigaretten rauchte.
Dupuis: Wie schrecklich!
Armstrong: Ich war etwas anderes gewöhnt, und zwar durch Igor Strawinskij, durch meine Lehrerin Lotte Lehmann und durch den Dirigenten Fritz Zweig, der mich sehr unterstützte. Ich erinnere mich noch, wie ich eines Tages, als ich Götz Friedrich noch nicht kannte, einen Anruf von meinem alten Freund Marcel Prawy aus Wien erhielt. Er sagte: „Ich höre, dass Götz Friedrich mit dir ‚Salome’ in Stuttgart herausbringen will? Lass das bloß sein! Er wird dich bei lebendigem Leibe auffressen und deine Karriere ruinieren!“ Und wissen Sie was: Da bin ich gerade gegangen!
Ihr Debüt fand 1966 an der Metropolitan Opera statt (unter Karl Böhm), in Bayreuth haben Sie gesungen, bevor Sie Götz Friedrich heirateten. Wie hätte sich Ihre Karriere ohne die Deutsche Oper Berlin entwickelt?
Armstrong: Ich wäre wohl an der Met geblieben, bei Rudolf Bing. Ich war damals zu allen Schandtaten bereit. Deswegen fürchte ich, dass sich mein Repertoire viel einseitiger entwickelt hätte und ich auf schnellstem Wege verschlissen worden wäre. Von Hänsel bis zu Aida hätte ich alles Mögliche gesungen. Was heute üblich ist, nämlich dass die Sänger ausgebeutet werden, das fing damals an. Das Problem ist: Mit 22 glaubt man, alles zu können. Mit 35 merkt man, dass es ein Irrtum war.
Als Frau des Intendanten haben Sie auch heftige Buhs einstecken müssen. Hat das Ihr Bild vom Beruf verändert?
Armstrong: Nein, es hat mich nur angriffslustiger gemacht. Das liegt an meiner Erziehung. Ich bin ohne Vater aufgewachsen, hatte dafür aber einen sehr starken Großvater. Ich bin eher selbstbewusst, muss ich sagen. Ich mag mich. (Lacht). Das macht das Leben einfacher, meinen Sie nicht? Und besser.
Herr Dupuis, aus Kanada kamen viele sehr kultivierte Sänger wie etwa Léopold Simoneau, Louis Quilico und Gerald Finley. Woher kommt die kanadische Eleganz?
Dupuis: Sie liegt – ganz klar! – daran, dass wir es allen Recht machen wollen. Wir respektieren sogar die, die sich nicht gut benehmen. Vielleicht hat das auf den Gesang abgefärbt. Die von Ihnen genannten Sänger sind nicht einmal die einzigen. Auch für Jean-François Lapointe oder Marie-Nicole Lemieux gilt es.
Bei „Eugen Onegin“ handelt es sich um eine „Wiederaufnahme“. Sind Sie beide deswegen weniger nervös?
Armstrong: Ich nicht. Jeder Abend ist eine Premiere, und zwar deswegen, weil ich selber jedes Mal eine andere bin. Die Unsicherheit ist jedes Mal genau dieselbe.
Dupuis: Der Unterschied besteht nur darin, dass bei einer Premiere nicht nur die Sänger, sondern auch die Techniker nervös sind. Das gibt sich dann mit der Zeit, die Techniker werden immer ruhiger. Das macht mich allerdings um so wahnsinniger!
Armstrong: Ist vielleicht auch besser so. Zu viel Selbstsicherheit ist auch zu nichts nütze.
Frau Armstrong, von Götz Friedrich sind noch acht Produktionen im Repertoire der Deutschen Oper Berlin: „Figaro“, „Bohème“, „Eugen Onegin“, „Rosenkavalier“, „Maskenball“, „Traviata“, „Meistersinger“ und der „Ring“. Welche ältere Produktion Ihres Mannes vermissen Sie denn am meisten?
Armstrong: Seinen „Tannhäuser“ und den „Holländer“. Wagner-Opern, das war genau sein Metier. Ich bin froh, dass mit Stefan Herheim immerhin ein Schüler meines Mannes den neuen „Ring“ inszeniert. Trotzdem werde ich der alten Produktion nachweinen, und zwar nicht zu knapp. Ich würde sie kaufen, aber das kann ich mir nicht leisten. Götz hat ständig an den Aufführungen weitergearbeitet und verbessert. Ich bin sicher, dass er viele Produktionen von sich aus auch weggeschmissen hätte. Der Unterschied ist nur, dass er jetzt nicht mehr da ist.
Herr Dupuis, als Hoël in Meyerbeers „Dinorah“ hatten Sie in Berlin bereits großen Erfolg. Auch als Barbier, Rodrigo, demnächst als Vater Germont singen Sie große Rollen an einem großen Haus. Wie sichern Sie sich dagegen ab, „verschlissen“ zu werden, wie Frau Armstrong es ausgedrückt hat?
Dupuis: Man kann sich, glaube ich, nur dagegen absichern, indem man stets mit der eigenen Stimme singt, ohne sich zu verstellen. Als Vater Germont, das weiß ich wohl, sehe ich zurzeit noch eher aus wie der Bruder von Alfredo. Marcello habe ich schon mit 27 Jahren gesungen, den Barbier mit 28. Ich denke grundsätzlich nicht über nächste Schritte nach. Sondern lege vor allem Wert darauf, mit guten Leuten gute Produktionen zu machen.
Armstrong: Ich glaube auch, das Wichtigste ist, die Stimme nicht größer zu machen, als sie ist. Versuch nie, mehr zu geben, nur weil das jemand von dir verlangt. Kleiner Tipp: Ich habe immer, wenn ein Dirigent eine andere Stimmfarbe von mir wollte, eine Weile nachgedacht und die Stelle dann genauso gesungen wie zuvor. Und jedes Mal ist der Dirigent darauf hereingefallen und hat gesagt: „Ja, jetzt hast du es! Genauso habe ich es mir vorgestellt!“
Aus dem Opernjournal Mai 2015 der Berliner Morgenpost