„Wir vernuscheln es hinterher“ - Deutsche Oper Berlin
Ein Interview von Martina Helmig
„Wir vernuscheln es hinterher“
Raymond Hughes, scheidender Chordirektor der Deutschen Oper Berlin, über seine Liebe zur russischen Oper, überdeutliche Aussprache und das Selbstverständnis amerikanischer Chorsänger
Boris Godunow
Dirigent: Kirill Karabits
Inszenierung: Richard Jones
Mit u. a. Sir Bryn Terfel, Burkhard Ulrich, Dong-Hwan Lee, Ante Jerkunica, Robert Watson, Matthew Newlin; Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin
Wiederaufnahme: 31. Januar 2019
„Musikalisches Volksdrama“ nannte Modest P. Mussorgskij seine Oper „Boris Godunow“. Neben dem Titelhelden spielt also diesmal der Chor als Volk die Hauptrolle. Der Amerikaner Raymond Hughes, der 16 Jahre lang Chordirektor der Metropolitan Opera New York war, hat die Chor-Einstudierung übernommen. Bevor in der kommenden Spielzeit Jeremy Bines seine Stelle als neuer Chordirektor antritt, hat Raymond Hughes ein Jahr lang interimistisch den Chor der Deutschen Oper Berlin geleitet.
Mr Hughes, Sie gelten als profunder Kenner der russischen Kultur und Sprache. Wie kommt das?
Raymond Hughes: In den Neunzigerjahren haben wir an der Met viele russische Opern herausgebracht, zuerst „Eugen Onegin“, dann „Pique Dame“. Diese Musik ist so herrlich, so leidenschaftlich, und ich habe mich in die Sprache verliebt – so wie man sich sonst nur in einen anderen Menschen verliebt. Ich fing allein am Computer an, das kyrillische Alphabet zu lernen. Ich wollte unbedingt ein tieferes Verständnis der Sprache, der Musik und der ganzen Kultur gewinnen. Ich ging nach St. Petersburg und belegte einen Sprachkurs. Danach suchte und fand ich die beste Russischlehrerin von New York. Sie gab mir Privatunterricht, wir sind immer noch gut befreundet und lesen Gedichte zusammen. Es entwickelte sich eine dauerhafte Beziehung zwischen der Met und dem St. Petersburger Mariinski- Theater mit Valery Gergiev. Wir haben viele russische Opern zusammen gemacht, auch Raritäten wie „Krieg und Frieden“ von Prokofjew und „Mazeppa“ von Tschaikowskij.
War „Boris Godunow“ damals auch dabei?
Ja, mehrfach. Valery Gergiev brachte 1997 eine neue Instrumentierung von Igor Buketoff mit nach New York. Sechs Jahre später haben wir dann mit Semyon Bychkov die Rimskij-Korsakow- Fassung erarbeitet. „Boris Godunow“ existiert in acht verschiedenen Fassungen, auch Schostakowitsch hat eine eigene Version gemacht. Das alles hat wenig mit Mussorgskijs ursprünglicher Instrumentation zu tun. Alle hatten das Gefühl, Mussorgskijs Musik sei zu karg und nicht richtig ausgefeilt. Dabei finde ich seine Instrumentierung sehr interessant, voller Farben und revolutionär für die Zeit. Hier machen wir die Urfassung, das sind ganz kompakte sieben Szenen, die in etwa zwei Stunden und 15 Minuten ohne Pause gespielt werden.
Wo liegen die Herausforderungen für den Chor?
Die Sprache ist die größte Schwierigkeit. „Boris Godunow“ wurde hier seit 2002 nicht mehr auf Russisch gesungen. Vor allem die Männer haben viel komplizierten Text. Es gibt so viele Feinheiten in der russischen Sprache, andere Farben in den Vokalen und weichere Konsonanten als bei uns. Sie sprechen auch nicht so deutlich wie wir, sondern etwas vernuschelt. Der Chor der Met hat einmal ein russisches Konzert gemeinsam mit dem Chor des Mariinski-Theaters gegeben. Meine Leute hatten große Bedenken wegen der Sprache, aber die russischen Chorsänger waren ganz fasziniert von unserer deutlichen Aussprache. Gergiev sagte allerdings einmal: „Das ist beeindruckend, aber viel zu präzise. So reden wir nicht.“
Und wie lassen sie es hier singen?
Wir proben es erst einmal in aller Deutlichkeit und vernuscheln es hinterher etwas.
Bei Mussorgskij gibt es viele unregelmäßige, besonders fünftaktige Perioden, Akzentverschiebungen und häufige Taktwechsel. Ist das schwer zu singen?
Eigentlich nicht. Der Komponist erläuterte im Hinblick auf manche Stellen, sie sollten wie gesprochenes Singen klingen. Die Dialoge zwischen den Volksmengen sind perfekt im Sprachrhythmus, Musik und Text wirken völlig organisch zusammen. Mussorgskij hat beides gleichzeitig ausgearbeitet. „Boris Godunow“ ist sehr gut für die Stimmen geschrieben. Mussorgskij hat alles präzise notiert.
Mussorgskij hat volkstümliche Lieder und Kirchengesänge einbezogen. Wie geht man als Chor mit dem russischen Kolorit um? Es gibt eine spezifisch russische Chortradition, spielt sie eine Rolle?
Auf jeden Fall, wir arbeiten daran. Die geistlichen Gesänge müssen klingen wie in der orthodoxen Kirche. Die Pilger singen interessanterweise altkirchenslawisch, das ist eine ganz andere Sprache als das moderne Russisch. Es gibt Gebete, die hinter der Bühne gesungen werden, die haben ein ganz anderes Timbre, einen dunkleren Klang, da färben wir die Vokale anders ein.
„Die Kunst ist ein Mittel, um mit den Menschen zu sprechen“, meinte Mussorgskij. Was will uns dieses historische Volksdrama heute sagen?
Es geht um die Befindlichkeiten des Volkes im Verhältnis zu den Mächtigen, um Manipulation, Lügen und Intrigen. Wenn man sich in der Welt umsieht, ist diese Oper ausgesprochen aktuell.
Die Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden war in London im letzten Jahr schon zu erleben. Haben Sie die Inszenierung gesehen?
Nein, aber ich kenne die Bühnenbilder und Kostüme. Die Urfassung ist nicht als Grand Opera konzipiert. Die Inszenierung von Richard Jones wirkt sehr intim, fast ein bisschen klaustrophobisch. Die Krönungsszene haben wir an der Met mit 120 Sängern gestaltet, hier sind es 66.
Welche Beziehung haben Sie zu Berlin?
In jungen Jahren war ich 1979 zum ersten Mal in Berlin. Ich habe an der Deutschen Oper „Manon Lescaut“ mit Plácido Domingo und „Jenufa“ mit Pilar Lorengar gesehen. In meinem Leben habe ich viele Vorstellungen besucht, aber an diese beiden erinnere ich mich ganz genau. Im Januar 1990 war ich noch einmal in Berlin, weil ich die Stimmung nach dem Mauerfall erleben wollte. Berlin ist die interessanteste Stadt der Welt. Ich wollte immer gern hier arbeiten. Ich habe mich hier auch sofort zuhause gefühlt. Die Berliner Schlagfertigkeit gefällt mir sehr.
Was ist an der Deutschen Oper Berlin ganz anders als an der Metropolitan Opera?
In Berlin probieren wir mehr und spielen weniger. An der Met wird sieben Mal in der Woche gespielt, von Montag bis Samstag, und am Samstag gibt es zwei Vorstellungen. Da hat man weniger Zeit zum Probieren. Auf der anderen Seite gibt es an der Met vor Wiederaufnahmen auch von Klassikern wie „Carmen“, „Tosca“ oder „La Traviata“ eine volle Orchesterprobe und eine Generalprobe. Hier haben wir am zweiten Tag der Spielzeit „Carmen“ aufgeführt. Ich habe fünf Minuten im Chorsaal ein paar Dinge durchsprechen können. Es ging trotzdem ganz fantastisch. An der Met sind fast alle Opern Fremdsprachenopern. Für „Die Meistersinger von Nürnberg“ habe ich an der Met wegen der Sprache drei Monate gebraucht. Das ging hier mit dem „Fliegenden Holländer“ natürlich viel schneller.
Welche Position hat der Chor der Metropolitan Opera im New Yorker Kulturleben?
Die Metropolitan Opera ist wie eine Insel. Es gibt große Opern in San Francisco, Chicago und Houston. Aber der Met-Chor ist der einzige Vollzeit-Berufschor in den USA. Es gibt auch keine anderen Profichöre wie hier die Rundfunkchöre. Den Beruf des Chorsängers gibt es nur in New York. Die Sänger fühlen sich als etwas Besonderes, es sind nur 80 im ganzen Land. Sie haben nichts, womit sie sich vergleichen können. Sie finden, dass alles, was sie machen, ganz großartig ist. Es gibt keine Staatsoper um die Ecke, mit der man sich messen könnte. Die Oper ist in New York auch vor allem ein gesellschaftliches Ereignis. Die meisten gehen in die Met, um gesehen zu werden. Ich glaube, dass das in Berlin anders ist. Hier geht es wirklich um das, was auf der Bühne geschieht.
Was waren für Sie persönlich die Höhepunkte Ihrer ausklingenden Berliner Saison?
Wir haben in New York viel Wagner gespielt. Ich habe vor 30 Jahren auch die afrikanische Erstaufführung der „Meistersinger von Nürnberg“ in Kapstadt einstudiert. Aber hier habe ich mit dem „Fliegenden Holländer“ zum ersten Mal an der Neuinszenierung einer Wagner-Oper in Deutschland mitgewirkt. Das war für mich etwas ganz Besonderes. Auch „Die Hugenotten“ und die Uraufführung von „Edward II.“ waren Herausforderungen. Ich muss dem Chor ein Kompliment machen: Er ist einfach fantastisch. Die Sänger sind zu allem bereit, nie mürrisch oder unwillig. Es ist die reine Freude, hier zu arbeiten.
Was haben Sie nach dem Ende der Spielzeit vor?
Ich habe zwei tolle Ensembles in meiner Heimatstadt Thomasville in Georgia: die Music and Drama Troupe und den Chor der St.-Thomas-Kirche. Sie hatten mir ein Jahr frei gegeben und warten nun darauf, dass ich zurückkomme. Ich werde aber immer wieder gern zu Besuch nach Berlin kommen.
Dieses Interview entstand für die Beilage der Deutschen Oper Berlin bei der Berliner Morgenpost, Juni/Juli 2017