Ein Blick in die Abgründe einer verlorenen Seele - Deutsche Oper Berlin

Aus dem Programmheft

Ein Blick in die Abgründe einer verlorenen Seele

Der Dirigent Enrique Mazzola im Gespräch mit Michael Küster

Michael Küster: Enrique, du hast in den vergangenen Jahren viele Opern von Gaetano Donizetti dirigiert und giltst heute als einer der wenigen wirklichen Spezialisten für seine Musik. Woher kommt deine Begeisterung für den Komponisten aus Bergamo?

Enrique Mazzola: Das Wort „Spezialist“ gefällt mir, ehrlich gesagt, nicht so sehr, weil das schnell mit einer Schubladisierung einhergeht. Die Begeisterung für Donizetti stammt aus meinen Anfangsjahren als Dirigent. Damals kümmerte ich mich um das gesamte italienische Repertoire und war oft verwundert, wie wenig vorbereitet das Belcanto-Repertoire und namentlich die Opern von Donizetti zur Aufführung gelangten. Der Fokus der Orchester lag nicht auf diesem Repertoire, das denn auch ziemlich pauschal heruntergespielt wurde. Auch die Sängerinnen und Sänger legten eine gewisse Nachlässigkeit an den Tag, was Fragen des Tempos und des Legatos anging. Vor diesem Hintergrund wollte ich dem Belcanto-Repertoire mehr Gerechtigkeit und Qualität widerfahren lassen. Für mich hat ANNA BOLENA einen ebenso großen Wert wie die GÖTTERDÄMMERUNG. Mir war es wichtig, einen neuen Weg der Interpretation einzuschlagen, der nach dem Wert und der Berechtigung jeder einzelnen Note, jeder einzelnen Phrase fragt.

Michael Küster: Wo steht ANNA BOLENA im Gesamtwerk Donizettis?

Enrique Mazzola: 1830, zum Zeitpunkt der Uraufführung von ANNA BOLENA, ist Donizetti noch nicht der erfolgsverwöhnte Belcanto-Komponist, der er wenige Jahre später sein wird. Das Mailänder Publikum hat ihn noch nicht sonderlich schätzen gelernt, zumal die meisten seiner Werke bis dahin in Neapel aufgeführt worden waren. Aber natürlich ist Donizetti alles andere als ein Berufsanfänger, immerhin ist ANNA BOLENA bereits seine 35. Oper. Mit ihr wurde er erstmals auch außerhalb Italiens wahrgenommen, es war sein erster durchschlagender Erfolg.

Michael Küster: Im Teatro Carcano in Mailand, wo die Uraufführung stattfand, hatte man in der gleichen Spielzeit auch eine Oper von Donizettis größtem Konkurrenten, Vincenzo Bellini, programmiert: LA SONNAMBULA. In beiden Opern sangen mit Giuditta Pasta und Giovanni Battista Rubini zwei der größten Gesangsstars der damaligen Zeit. Innerhalb weniger Monate hatte das Publikum den direkten Vergleich zwischen Bellini und Donizetti. Welche Unterschiede müssen den Zuhörenden von damals aufgefallen sein?

Enrique Mazzola:  Das Publikum kam damals in den Genuss zweier Belcanto-Handschriften. In den 1830er-Jahren war der Stil Bellinis etabliert. Er hatte Maßstäbe dafür gesetzt, wie eine Belcanto-Oper auszusehen und zu klingen hatte. Bei Donizetti merkt man, dass er trotz des Ringens um einen eigenen, unverwechselbaren Ton noch unter dem Einfluss Bellinis und des späten Rossini steht. Wenn ich ANNA BOLENA dirigiere, dann gibt es vier, fünf Momente, wo ich ganz klar das Parfum Bellinis spüren kann. Die einleitende Sinfonia ist jedoch eine Hommage an den späten Rossini. Kein neuer Komponist in den 1830er Jahren kam ohne diese Reverenz an Rossini aus, anders hätte er keinen Erfolg gehabt. Crescendi, Tempo, schnelle Artikulation in den Agitati-Passagen… das alles kommt von Rossini. Dem konnte man gar nicht entfliehen. Nach der Ouvertüre werden wir dann jedoch sofort in eine cineastische Szene hineinkatapultiert, die mitten im Gange ist. Donizettis Beitrag zur frühromantischen Oper ist die besondere Dramaturgie. Während der Fokus bei Bellini oft auf der Qualität einer Phrase, der Melancholie eines Effekts liegt, geht Donizetti die Sache mit der Direktheit und Entschlossenheit des Norditalieners an. Er kommt aus Bergamo, wo das Klima oft von Nebel und Kälte bestimmt wird. Aber bei Sonne und klarem Wetter sieht man die Alpen. Bellini ist Südländer. Lebenslang atmet er in der Gegend von Catania den Duft von Orangenblüten und Melancholie. Das Publikum im Teatro Carcano dürfte von Donizetti überrascht gewesen sein. Er legt den Fokus auf die Dramaturgie, und das geht schon fast in Richtung Musiktheater.

Michael Küster: Was sagst du zu der These, in ANNA BOLENA habe Donizetti erstmals künstlerisch zu sich selbst gefunden? Ist das nicht zu plakativ? Immerhin hat er in ANNA BOLENA Entlehnungen aus insgesamt vier seiner Opern vorgenommen. „Al dolce guidami“, das Cantabile der Schlussarie, ist zum Beispiel eine Entlehnung aus Donizettis zweiter Oper ENRICO DI BORGOGNA aus dem Jahr 1818…

Enrique Mazzola:  Ich betrachte das Schaffen eines Komponisten generell als eine Art „Work in progress“. Donizettis frühe Opern waren nicht lediglich Vorstufen, um einen Meilenstein wie ANNA BOLENA zu schaffen. Auch wenn ANNA BOLENA ein Erfolg war, sehe ich sie doch noch als eine Oper des Übergangs und nicht als ein Werk, in dem sich ein völlig neuer Stil manifestieren würde. MARIA STUARDA ist da doch um einiges kompakter und näher an dem, was Donizetti später komponieren wird. Dem Wettbewerb mit Bellini hat er sich aber offenbar ganz bewusst gestellt. Der ausgefeilten Artikulation der Rezitative schenkt er größte Aufmerksamkeit. Er wusste, dass Bellini der ungekrönte Meister darin war. Später wird Donizetti das Tempo in den Rezitativen deutlich anziehen, weil er mehr persönliche Freiheit und Selbstbewusstsein gewonnen hat.

Michael Küster: Beim Hören der Oper bemerkt man, wie geschickt Donizetti gerade in den Rezitativen die Spannung am Kochen hält. Auffällig ist, wie gewissenhaft er am Text entlang komponiert. Es geht nicht um große Architektonik, sondern er folgt dem Text in seine kleinsten Verästelungen.

Enrique Mazzola:  Das stimmt! Die Rezitative leben von Tempowechseln und ihrer abwechslungsreichen Dynamik. Da gibt es plötzliche Fortissimi oder Momente, wo er plötzlich „presto“ für eine Phrase vorschreibt. Wenn man in den Genuss des echten Donizetti-Geschmacks kommen will, sollte man diese Rezitative nicht streichen. Sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil dieses großen dramaturgischen Rahmens, den Donizetti für ANNA BOLENA konstruiert hat.

Michael Küster: Eine besondere Spezialität in ANNA BOLENA sind die Duette und Ensembleszenen. Vor allem das Duett zwischen Anna Bolena und ihrer Hofdame und Rivalin Giovanna Seymour ist hier herauszuheben.

Enrique Mazzola: Es ist der Vorläufer des großen Duetts Elisabetta – Maria aus MARIA STUARDA. Im Dezember 1830 war ein Duett als Ausdruck der Machtspiele zweier Frauen etwas völlig Neues. Dieses Duett wird zum Austragungsort ihrer Auseinandersetzungen. Donizetti gibt den beiden Frauen übrigens kaum Gelegenheit, gleichzeitig zu singen. Etwa 90 Prozent dieses Duetts alternieren ihre Stimmen, erst am Ende des Duetts singen sie zusammen. Auch hier hält Donizetti so die Spannung aufrecht. Eine Reaktion löst die nächste aus. Wir erleben Hass und Komplizenschaft, Kampf und Vergebung. An ein Duett in perfekter Harmonie, wie etwa die Barcarole von Offenbach, dürfen wir dabei nicht denken. Donizetti hatte ganz anderes im Sinn. Wenn er auch im größeren Kontext eines Quintetts oder Sextetts mehrere Stimmen zusammenspannt, heißt das nicht notwendigerweise, dass diese Stimmen auch zusammen singen.

Michael Küster: Die Zeitgenossen berauschten sich vor allem an der knapp 25-minütigen Finalszene Annas. Bei klarem Bewusstsein spricht Anna Giovanna und Enrico ihre Vergebung aus. Was ist das Besondere an dieser oft als Wahnsinnsszene bezeichneten Nummer?

Enrique Mazzola: Mit dem Wahnsinn ist das so eine Sache. Der Begriff beschreibt diese Szene nicht richtig, weil wir es hier im Grunde mit einem Wechsel der Bewusstseinslagen Annas zwischen Erkenntnis der Realität und der in Phantasien abschweifenden Erinnerung an gelebtes Leben zu tun haben. Es ist eigentlich ein ganz klarer Moment für sie. In der frühromantischen italienischen Oper sind diese sogenannten Wahnsinnsszenen der Punkt, an dem die Frauen Kontrollverlust erleben und an die Grenzen der Realität gelangen. Aber es ist für Komponisten wie Bellini und Donizetti auch der richtige Ort, eine lange, ausdrucksstarke Szene und damit den einen großen Showmoment für die Diva zu kreieren. Es war die ideale Gelegenheit, Stimmkunst und Ausdrucksspektrum einer Sängerin ins beste Licht zu rücken. Donizetti wird bald eine besondere Meisterschaft darin entwickeln, denken wir nur an die entsprechenden Szenen in MARIA STUARDA und LUCIA DI LAMMERMOOR. Wer in die Abgründe einer verlorenen Seele schauen möchte, muss die Finalszene aus ANNA BOLENA hören.

Michael Küster: Inwiefern wird sich deine Donizetti -Lesart von früheren Interpretationen unterscheiden?

Enrique Mazzola: Ich verehre meine musikalischen Ziehväter und weiß, was ich ihnen verdanke. Ein Dirigent wie Gianandrea Gavazzeni hat ANNA BOLENA nach dem Zweiten Weltkrieg für das Repertoire zurückerobert, als er sie 1957 gemeinsam mit dem Regisseur Luchino Visconti und Maria Callas in der Titelrolle auf die Bühne der Mailänder Scala brachte. Aber diese Dirigentengeneration hatte ihre wesentlichen Prägungen vom späten Verismo und vom Expressionismus erhalten. In bester Absicht hat man deshalb ganze Szenen gestrichten und ist recht willkürlich mit dem Tempo einiger Arien umgegangen, um sie für die Sänger passend zu machen. Dem Publikum von heute sollten wir enthüllen, was wirklich in Donizettis Manuskripten steht. Unsere ANNA BOLENA -Edition ist in Zusammenarbeit mit der Fondazione Donizetti di Bergamo entstanden und räumt mit einigen Irrtümern auf. Sie enthält viele Informationen zur Phrasierung, der richtigen Dynamik und zur Tempogestaltung. Wo man früher „Allegro“ spielte, ist oft „Moderato“ notiert, und auch der umgekehrte Fall tritt gelegentlich auf. Das Publikum wird also einige Überraschungen erleben. Es lohnt sich, die Ohren offen zu halten.

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